Soldaten der Bundeswehr im Gefecht. Foto: Bundeswehr/Patrick von Söhnen. |
Der Soldat unterscheidet sich von einer eine Uniform einer der Teilstreitkräfte tragenden Person dahingehend, daß er sich in erster Linie als Kämpfer versteht. Angesichts der Bedrohungen auf den heutigen Gefechtsfeldern muss jeder Soldat über ein solides infanteristisches Basiswissen verfügen. Das schließt eine gründliche Schießausbildung ein. Sichere Treffer auf weite Distanz sind nicht nur eine Frage der Waffen, Munition, Optik und Optronik, sondern auch der Einsatzkonzepte und vor allem der Ausbildung. Ein Plädoyer für ein umfassendes Verständnis von Handwaffenkonzept und Schießausbildung.
von Jan-Phillipp Weisswange
Im Sommer 2012 ging ein Rauschen durch den deutschen Blätterwald: Der Bundesrechnungshof beklagte Mängel bei der Wirksamkeit der Bundeswehr-Handwaffen. Es gäbe kein Konzept und mitunter würden untaugliche Gewehre beschafft. Insbesondere die Treffsicherheit sowie die Wirkung im Ziel auf längere Distanzen jenseits der 300 Meter sei unzureichend.
Bei genauerer Betrachtung wärmte die Bonner Behörde mit den spitzen Bleistiften lediglich die in der NATO seit den 1960er Jahren geführte Debatte über die Wirksamkeit ihres jüngeren Standardkalibers 5,56 x 45 mm (alias .223 Remington) gegenüber ihrem älteren 7,62 x 51 mm (.308 Winchester) auf. Aber immerhin forderten nun selbst Oppositionspolitiker medienwirksam, den deutschen Soldaten wirksamere Handwaffen auszugeben. Das ist sicherlich zu begrüßen, denn im Feuergefecht geht Wirkung vor Deckung. Doch die Wirksamkeit des Einzelschützen auf längere Distanzen ist in erster Linie eine Frage der Einsatzkonzepte sowie vor allem der Ausbildung. Heutige Handwaffenkonzepte müssen die Wechselwirkungen zwischen Technik, Taktik und Training berücksichtigen.
Spezialisierungsstufen der Schützen
Grob lassen sich drei unterschiedliche Spezialisierungsstufen für den gezielten Einzelschuss auf weite Distanzen unterscheiden: der Sturmgewehrschütze, der Zielfernrohrschütze und der Scharfschütze.
Das Sturmgewehr bildet die Standardbewaffnung auf dem Gefechtsfeld. Eine gründliche Ausbildung vorausgesetzt, kann der Sturmgewehrschütze mit gezielten Einzelschüssen auf 300 Meter und mehr treffen – entgegen aller Unkenrufe auch mit dem G36 und das auch noch nach mehreren Magazinen! Gemäß innovativer Schießausbildungskonzepte – etwa dem in der Schweiz entstandenen „Sniping 4th Generation (S4G)“ – kann er sogar auf noch höhere Distanzen wirken. Als Richtgröße sollte dabei der „infanteristische Halbkilometer“ gelten, den US-Major Thomas P. Ehrhart in seiner 2009 erschienenen Schrift "Increasing Small Arms Lethality in Afghanistan. Taking back the Infantry Half Kilometer" gefordert hatte. „Schwere Sturmgewehre“ in größeren Kalibern versprechen hier freilich bessere Wirkung.
Das in den USA erdachte Konzept des „Squad Designated Marksman“ (SDM) hat sich inzwischen in vielen NATO-Streitkräften durchgesetzt.
Squad Designated Marksman (vorne) mit M14 Enhanced Battle Rifle. Foto: U.S. Army |
Der heutige „Scharfschütze“ („sniper“) stellt schließlich die höchste Spezialisierung dar. Er durchläuft deutlich gründlichere und längere Ausbildungen, operiert weitgehend eigenständig, führt meist ein Präzisions-Repetiergewehr und dazu deutlich höherwertige Optik, Optronik und Funkausstattung mit sich und hat einen ebenfalls als Scharfschützen ausgebildeten Beobachter (“Spotter“) bei sich. Je nach Bewaffnung kann ein Scharfschützentrupp auf bis zu rund 1.800 Meter wirken. Und höhere Distanzen sind verbrieft. Der US Navy SEAL Chris Kyle erzielte im Irak-Einsatz seinen weitesten Treffer auf 1.920 Meter, und der britische Corporal of Horse Craig Harrison schaltete im November 2009 in der afghanischen Provinz Helmand auf 2 475 Meter zwei feindliche MG-Schützen aus.
Sturmgewehre
Nahezu alle NATO-Staaten halten weiter am Sturmgewehr in 5,56 x 45 mm fest. Die Gründe hierfür liegen vor allem in der Gewichtsersparnis. Die macht sich sowohl beim Einzelschützen („mehr Munition am Mann“) als auch beim Nachschub für ganze Einsatzkontingente („mehr Patronen bei gleichem Gewicht und Transportraum“) bemerkbar. Zudem entwickelt das kleinere Kaliber weniger Rückstoß, was sich positiv auf die Trefferergebnisse auswirkt. Gute Trefferergebnisse lassen sich freilich durch entsprechende Ausbildung und Inübunghaltung auch mit 7,62 x 51 mm bewerkstelligen.
FN SCAR-Heavy alias MK17 im Einsatz bei US-Spezialkräften. Foto: US DoD |
Polnisches modulares Sturmgewehrkonzept MSBS. Foto: Jan-P. Weisswange |
Zielfernrohrgewehre („DMR“)
Anders als das „schwere Sturmgewehr“ trägt das Zielfernrohr (ZF)-Gewehr oder „Designated Marksman Rifle“ ein ZF. Es ist auch auf das Kaliber 7,62 x 51 mm, aber meist nur auf Einzelfeuer ausgelegt.
Zwischen 2000 und 2004 entstanden bei U.S. Army und U.S. Marine Corps verschiedene Modelle solcher Waffen. Diese „Enhanced Battle Rifles“ (EBR) basieren auf der ehemaligen Standardwaffe M14. Mit ZF wiegen diese M14 EBR je nach Ausführung leer zwischen fünf und sieben Kilo.
Großbritannien beschaffte ab Anfang 2010 im einsatzbedingten Sofortbedarf ebenfalls einen halbautomatischen Selbstlader in 7,62 x 51 mm. Das vom US-Hersteller Lewis Machine&Tool Company (LMT) hergestellte L129A1 verfügt über einen Match-Lauf und Zweistufen-Druckpunktabzug sowie eine sechsfach vergrößernde Trijicon-Zieloptik ACOG 6x38.
In der Bundeswehr erfolgte die „Wiedergeburt des ZF-Schützen“ um 2008. Ausgangspunkt bildeten DMR-Truppenlösungen auf Basis des G3. Nach einem kurzen, aber turbulenten Ausschreibungsverfahren beschaffte die Bundeswehr dann das Heckler&Koch DMR762-MR als ZF-Selbstladegewehr. Das kam als G28 in die Truppe und befindet sich seit Mai 2012 im ISAF-Einsatz.
Waffenfamilie: G28, G28Patrouillenversion, HK417kBW samt 40-mm-Granatwerfermodul. Foto: Jan-P. Weisswange |
HK bietet für sein G28 einen „Ergänzungssatz Schalldämpfer“ sowie einen „Ergänzungssatz Patrouille“ an. Letzterer besteht aus kurzem Handschutz, ZF Schmidt&Bender 1-8x24-G28 PMII Short Dot, Trageriemen sowie schlanker Schulterstütze. Damit erweist sich das G28 als leichter und führiger. Denn die ursprüngliche Konfiguration spielt durch seine hochwertige Ausstattung, aber auch durch sein Gewicht schon eher in der Liga halbautomatischer Scharfschützengewehre.
Scharfschützengewehre
Solche „Semi Automatic Sniper Systems (SASS)“ setzen die US-Streitkräfte bereits seit den frühen 1990er Jahren ein. Ab 2005 lief das Knights Armament M110 SASS zu. Das halbautomatische Selbstladegewehr im Kaliber 7,62 x 51 mm soll bei der US Army die auf dem Repetiergewehr Remington 700 basierende M24 und bei dem US Marine Corps die ebenfalls auf der Remington 700 basierende M40 ergänzen und ältere EBR ablösen.
FN stellte Ende 2011 seine SCAR-H Precision Rifle vor. Sie verfügt über einen 508 mm langen, freischwingenden, verchromten und schwereren Matchlauf. Zu den weiteren Merkmalen zählen die durchgängige längere Picatinny-Schiene auf der Gehäuseoberseite, die die aneinandergereihte Montage von Zielfernrohr und Nachtsichtvorsätzen erlaubt. Weiterhin hat die SCAR-H PR ein Druckpunktabzugsmodul mit Matchabzug. FN garantiert ein Trefferbild von einer Winkelminute auf 100 Meter, was einem Streukreis von 29,08 mm entspricht.
Die halbautomatischen DMR- und Scharfschützenwaffen lösen freilich die Repetiergewehre nicht völlig ab. So haben die britischen Streitkräfte weiterhin ihre Repetiergewehre L96 und L115 aus der Accuracy International Arctic Warfare Magnum-Modellreihe im Einsatz. Die Bundeswehr hält am G22 aus gleichen Hause fest. Und die US Army führte beispielsweise eine M24E1 Enhanced Sniper Rifle („verbesserte Scharfschützenbüchse“) im Kaliber in .300 Winchester Magnum (7,62 x 67 mm) ein. Die erhielt inzwischen die Bezeichnung XM2010. Standardmäßig trägt sie ein Leupold-Zielfernrohr 6,5–20×50Mark 4.
Inzwischen setzt sich immer mehr das Kaliber .338 Lapua Magnum alias 8,6 x 70 mm als Scharfschützenstandard durch, da es ausgezeichnete Präzision und Wirkung auf Reichweiten von bis zu 1.600 Metern bietet. So sucht das US Special Operations Command derzeit ein Scharfschützen-Repetiergewehr in diesem Kaliber. Unter den Bewerbern für dieses „Precision Sniper Rifle (PSR)“-Projekt finden sich klangvolle Namen: Accuracy International (AX338), Armalite (AR-30), Ashbury (ASW338), Barrett (MRAD), Beretta (Sako TRG M10), FNH USA (Ballista, ein Unique Alpine), PGM (PGM338), Remington (Modular Sniper Rifle) oder SIG Sauer (Blaser Tactical 2).
Sako TRG M10 in 7,62 x 51 mm (o) und .338 Lapua Magnum. Foto: Jan-P. Weisswange |
Für noch größere Reichweiten kommt das Kaliber .50 BMG (12,7 x 99 mm) zum Einsatz. Als Halbautomat hat sich dabei das Barrett M82 durchgesetzt. Und bei den Repetierern sind in der NATO das Accuracy International AW50 sowie das PGM Hecate in Nutzung.
Exkurs: Die Munitionsfrage
Neben Ausbildung, Waffe, und Optik fällt auch der Munition eine Schlüsselrolle beim Wirken auf weite Distanzen zu. Aus militärischer Sicht beschränkt sich die Frage nach leistungsfähiger Munition weitgehend auf die Wahl geeigneter Kaliber. Im Gegensatz zum polizeilichen Präzisionsschützen bestehen für den militärischen Anwender nämlich größere Einschränkungen bei der Munitionsauswahl. Denn nach herrschender Auslegung des Kriegsvölkerrechts darf er lediglich Vollmantelmunition einsetzen.
Die obere Aufzählung zeigte, dass Zielfernrohr-Selbstladegewehre meist über das „klassische“ NATO-Kaliber 7,62 x 51 mm verfügen. Bei den Scharfschützengewehren setzt sich mehr und mehr das Kaliber .338 Lapua Magnum (8,6 x 70 mm, Anfangsgeschwindigkeit 915 m/sec, Reichweite bis 1.600 m) durch. Standard-Sturmgewehre verschießen derzeit mit Masse das Kaliber 5,56 x 45 mm.
Größenvergleich 5,56 x 45 mm, 7,62 x 35 mm, 7,62 x 51 mm. Foto: Jan-P. Weisswange |
Fazit
Der kurze Überblick zeigt, dass es für die treffsichere Wirkung auf größere Distanzen etliche Optionen für einen zweckmäßigen Waffenmix gibt. Ein schweres Sturmgewehr stellt eine sinnvolle Ergänzung der Palette dar.
Es kommt also vor allem auf die Ausbildung an. Und die beginnt mit der entsprechenden Einstellung, nämlich dem Anspruch, sich kampfbereit zu halten!
Nahbereichsschießen im Rahmen des nSAK der Bundeswehr. Foto: Jan-P. Weisswange |
Das U.S. Marine Corps lässt gemäß des Grundsatzes „Every Marine a rifleman first!“ alle seiner Angehörigen eine ausführliche Schießausbildung durchlaufen. Die Bundeswehr implementiert derzeit das neue Schießausbildungskonzept (nSAK).
Der gezielte Einzelschuss auf weite Distanzen gehört ebenso zur umfassenden Schießausbildung! Foto: Jan-P. Weisswange |
Doch bei aller Begeisterung für das noch neue (und völlig zu Recht trainierte) Nahbereichsschießen: Dieses bildet eben nur einen Teil des nSAK. Es dürfen die „klassischen Schießfertigkeiten“ wie der gezielte Einzelschuss auf hohe Distanzen und weitere Tugenden wie Feuerzucht nicht in Vergessenheit geraten! Selbst die Standortschießanlagen mit ihren 300-Meter-Bahnen bieten Gelegenheit, sich diesbezüglich in Übung zu halten. Dabei gilt: Nicht jeder Soldat muß ein Scharfschütze sein – aber ein guter Schütze, der mindestens seine Standardwaffen auf Distanzen von bis zu 500 Metern treffsicher einsetzen kann.
Text: Copyright 2013 by Jan-Phillipp Weisswange
Der Artikel basiert auf meinem Beitrag “Wirkung auf größere Distanzen” in ES&T 3/2013, S. 90-93