Berlin (ww) Die umfangreiche Liste der militärischen Mittel, welche die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen einer Länderabgabe aus Bundeswehrbeständen an die kurdischen Peschmerga-Milizen liefern will, lässt aufblicken.
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Kurdische Kämpfer mit T-55 im Nordirak. Foto: Boris Niehaus/wikipedia |
Daß sie „nichtletale Ausrüstung“ (Schutzhelme, Schutzwesten, Schutzbrillen, Doppelfernrohre, Nachtsichtgeräte, Funkgeräte, Minensonden, Kampfmittelbeseitigungsgerät, Feldküchen) und auch Fahrzeuge nennt, ist keine Überraschung. Ebenso zeichneten sich in den letzten Tagen vor der Veröffentlichung Panzerabwehrhandwaffen wie die Panzerfaust und der demnächst auszuphasende Panzerabwehrlenkflugkörper MILAN ab. Das 70-Millionen-Euro-Arsenal, welches am 31. August 2014 bekanntgegeben wurde, sorgte dennoch für Aufsehen: Handwaffen für eine Heimatschutzbrigade stellt die Bundesregierung für den Kampf der kurdischen Kameraden gegen die mordenden Horden des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) bereit. In drei Tranchen gehen
- 8.000 Sturmgewehre G3 mit zwei Millionen Schuss Munition
- 8.000 Gewehre G36 mit vier Millionen Schuss Munition
- 40 (!) Maschinengewehre MG3 mit einer Million Schuss Munition
- 8.000 Pistolen P1 mit einer Million Schuss
- 30 Panzerabwehrlenksysteme MILAN mit 500 Lenkflugkörpern
- 200 Panzerfaust 3 mit 2.500 Patronen
- 40 Schwere Panzerfaust „Carl Gustaf“ („Leuchtbüchse“) mit 1.000 Schuss Leuchtmunition
- 100 Signalpistolen P2A1 mit 4.000 Schuss Munition und
- 10.000 Handgranaten DM51
zunächst zur Inspektion an die irakische Armee, bevor sie dann im Norden an die Peschmerga-Milizen ausgegeben werden. Als erstes soll ein 4.000 Mann starker Kampfverband ausgestattet werden, die übrigen Tranchen sollen lageangepasst geliefert werden.
Kein sicherheitspolitischer ParadigmenwechselNota bene: Die Bundesregierung liefert nicht etwa nur humanitäre Hilfsgüter, sondern Kriegswaffen. Auch liefert sie kein Großgerät, dessen Verbleib leichter zu kontrollieren ist, sondern Handwaffen und Munition in ein Krisengebiet. Und sie tut es auch nicht verschämt über Umwege, indem sie etwa ihr Material an einen NATO-Partner liefert, der dann seinerseits seine ausgetauschte Ausrüstung an die eigentlichen Empfänger weitergibt. Vielmehr bezieht die Bundesregierung klar Stellung für eine der Konfliktparteien.
Zweifellos erscheint bemerkenswert, daß sich damit offenbar eine selbstverständliche Sichtweise nun auch in der Politik durchsetzt: Nicht die Handwaffe als solche ist gut oder böse, sondern derjenige, der sie nutzt oder mißbraucht. Aber handelt es sich bei den Waffenlieferungen zur Unterstützung des Kampfes gegen IS um einen sicherheitspolitischen Paradigmenwechsel, um ein Beispiel äußerster Entschlossenheit angesichts menschenverachtenden Treibens und einer unkalkulierbaren globalen Gefahr?
Wohl kaum. Der Beschluss der Bundesregierung zeugt nur davon, daß die Bundesrepublik nicht mehr willens oder in der Lage ist, dem „Vorstoß der menschenverachtenden Terrormiliz“ Einhalt zu gebieten, indem sie eigene Kräfte einsetzt. Beispielsweise hätte die Luftnahunterstützung für die kurdischen Kämpfer durch bewaffnete Bundeswehr-Kampfdrohnen deutlich weniger Risiken mit sich gebracht – sowohl, was den Schutz eigener Kräfte als auch die unkalkulierbare Proliferation von Kriegswaffen anbelangt. Aber solche bewaffneten „Unmanned Aerial Systems“ kann der Hochtechnologiestandort Deutschland seinen Soldaten aus vorwiegend ideologischen und auch haushalterischen Gründen nicht zur Verfügung stellen.
Keine Frage: Die Bundesrepublik steht vor den Trümmern ihrer vernachlässigten Sicherheitspolitik der letzten Jahrzehnte. Diese führte letztlich zu einer dreifachen Demobilisierung Deutschlands: Strukturell, industriell und – das wiegt am schwersten – intellektuell.
Die dreifache Demobilisierung Deutschlands beenden!Deutschland leistet sich als wirtschaftsstarkes 80-Millionen-Volk in geopolitischer Mittellage den Luxus, seine Streitkräfte als aktive, attraktive, andere, arbeitgebende Sicherheitsdienstleistungsagentur anzusehen. Dieser Ansatz führt derzeit zu einer kadettengeführten Profi-Streitmacht mit geschlechtsneutral formulierten Vorschriften, Mülltrennung selbst in den Einsatzgebieten und erhofften 70 Prozent Materialklarstand. Als „Level of Ambition“ gilt, zur kollektiven Verteidigung eine der verbliebenen drei Heeresdivisionen abstellen zu können – nach einer Vorbereitungszeit von sechs Monaten und bei Abbruch laufender Einsätze. Deutschland leistet sich den Luxus, auf Rekonstitution statt auf Reserven zu setzen und selbst dabei noch inkonsequent zu sein – denn die Wiederherstellung aufgegebener Verteidigungsfähigkeit erfordert nicht nur schnelle personelle und strukturelle Aufwuchsfähigkeit, sondern eine leistungsstarke wehrtechnische Industrie, die im Fall der Fälle modernes Gerät in größeren Stückzahlen zuliefern kann. Aber die wehrtechnische Industrie leidet derzeit nicht nur unter schrumpfenden Streitkräftestrukturen, sondern auch unter der restriktiven Rüstungsexportpolitik eines Wirtschaftsministers, der sich im übrigen noch vor wenigen Wochen medienwirksam mit der Zivilisierung der heimischen wehrtechnischen Industrie zu profilieren suchte. Und Deutschland leistet sich den Luxus, daß das alles – bis auf eine kleine, sich auf parlamentarischen Abenden an der Spree selbst befruchtende und meist mit TVöD-Verträgen abgespeiste „strategic community“ – niemanden interessiert. Zumal der Staatsbürger ohnedies nach der Aussetzung der Allgemeinen Wehrpflicht kaum noch Berührungspunkte zur Uniform hat.
Sicherheitspolitik blieb nach dem Ende des „Kalten Krieges“ stets unkalkulierbar und sie ist es mehr als je zuvor – das zeigt das plötzliche Erscheinen der IS-Milizen ebenso anschaulich wie der Ukraine-Krieg. In Zeiten, in denen militärische Schwäche politisch ausgenutzt wird, in denen sich abzeichnet, daß ideologische Kämpfer wie IS den Krieg auch in Europas Städte tragen werden, da ist es höchst angebracht, die dreifache Demobilisierung Deutschlands zu beenden. Kamerad Kurde kämpft jetzt für uns. Es wird Zeit, daß wir es bald wieder selber können und wollen, wenn es drauf ankommt.
Jan-Phillipp Weisswange